Ich sehe was, was du nicht siehst -
Mobile Augmented Reality auf dem Weg zum Massenphänomen

Ein Artikel von Markus Bokowsky für die deutsche
Fachzeitschrift "Mobile-Technology" Ausgabe 2/2012.

 

Von Augmented Reality (AR) hat man in letzter Zeit viel gehört; an allen Ecken und Enden tauchen Kampagnen mit AR-Elementen auf. Die von manchen gehegte Hoffnung, dass es sich um einen kurzlebigen Trend handeln könnte, hat sich nicht erfüllt. Schauen wir mal, was man mit Augmented Reality bisher so alles machen kann, und wo sich der Einsatz im Rahmen der digitalen Marketingkommunikation lohnt.

Von Markus Bokowsky

Zu Beginn sei noch kurz erwähnt, dass ich mich im Folgenden nur auf mobile AR-Szenarien beschränke. Augmented Reality in Kiosk-Systemen am POI/POS sowie als Teil einer Website hat sicherlich weiterhin seine Berechtigung, ist aber in meinen Augen nur ein Evolutionsschritt in der Entwicklung hin zu AR auf mobilen Devices, dort spiel in Zukunft die Musik. Die Internetnutzung verschiebt sich immer mehr Richtung mobiler Nutzung, und die Vorteile von Smartphones immer dabei, immer an und immer online zu sein, sind für AR besonders wichtig. Smartphones und zunehmend auch Tablets bringen alles mit, was für die Nutzung von AR benötigt wird:

  • Eine Kamera
  • Positionsbestimmung durch GPS, WLAN, 3G- bzw. GSM-Ortung
  • Bestimmung der Lage im Raum durch Gyroskop und Kompass
  • Leistungsstarke Prozessoren
  • Multitouch Displays

Grundsätzlich gibt es Augmented Reality in zwei „Geschmacksrichtungen“. Einmal die positionsbasierte Variante, wo es darum geht, geocodierte Informationen an meinem Standort einzublenden. Das Kamerabild wird dabei mit computergenerierten Informationen wie Text, Bildern, Videos, 3D Modellen etc. überlagert. Je besser die Positionsbestimmung gelingt, umso akkurater die Informationen. Die zweite Form setzt auf Mustererkennung im Nahbereich. Hier kommt nicht der per GPS bestimmte Standort zum Tragen, sondern ein zwei- oder dreidimensionales Objekt im Kamerafokus wird erkannt und eine Information über das Kamerabild gelegt. Verschwindet das Objekt aus dem Fokus verschwindet auch die Information. Die gerade ihren zweiten Frühling erlebenden QR-Codes werden manchmal zu dieser zweiten Kategorie gerechnet. Im Unterschied zu QR-Codes, kann bei Augmented Reality jedoch jede Art von Bild oder Objekt als Muster, das erkannt werden muss, verwendet werden. Dadurch entfällt die Bindung an die markante Form des QR-Codes, was allerdings andererseits die Herausforderung mit sich bringt, dass dem Nutzer irgendwie kommuniziert werden muss, dass ein Motiv augmentiert werden kann, und mit welcher App er es zu scannen hat.

App oder nicht App?

Was uns gleich zum nächsten Thema bringt: App oder nicht App? Keine Frage? Doch – zumindest kurz: In der öffentlichen Wahrnehmung wird das Thema Augmented Reality auf mobilen Devices häufig mit sogenannten AR Browsern verbunden. Diese AR-Browser, namentlich Layar, Junaio und Wikitude stellen einem Webbrowser nicht unähnlich die Infrastruktur zur Verfügung um einfach eigene geocodierte Infos per Kanal darüber zu verbreiten. Für Marketing Kommunikation im professionellen Umfeld kommen AR-Browser aber eigentlich nicht in Frage. Man ist immer Untermieter auf einem fremden System, man hat keine eigene App zum Promoten sondern nur einen Kanal, man ist in Funktionalität und Design sehr eingeschränkt, eine Offlinenutzung ist nicht möglich etc.
Also doch keine Frage: wenn AR im professionellen Marketing, dann mit eigener App (was Kanäle für die AR-Browser als „Abfallprodukt“ ja nicht ausschließt).
Aber jetzt mal konkret: Was kann man mit AR machen, und wohin geht die Reise?

Handel

Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Ein Store Finder oder Service Locator für große Handelsketten drängt sich auf und wird auch bereits vielfach angeboten. Es ist lediglich darauf zu achten, dass dies nicht das einzige Feature der App sein sollte, sondern eine bestehende App gut ergänzt. Spannender wird es da schon, wenn wir uns rein virtuelle Stores ansehen. Mit AR ist es möglich, an Orten, die normalerweise nicht mit meiner Marke in Verbindung gebracht werden, virtuelle Pop-up Stores zu errichten. Bestimmte Produkte oder Rabatte gibt es nur dort.

Ein schönes Beispiel für auf Mustererkennung basierende AR ist momentan bei Macy’s zu bewundern. Im Rahmen der alljährlichen Weihnachtsaktion „Believe“ können sich Macy’s-Kunden im Laden zusammen mit den vier Figuren Virginia, Ollie, Barry und Charlotte fotografieren lassen. Wobei Virginia und Co. nur virtuell auf dem Display von Smartphone oder Tablets erscheinen, ein Tab ließ sie verschiedene Posen einnehmen. [1]

Durch Mustererkennung wird es möglich reale Objekte virtuell zu erweitern. Was hier im einzelnen Sinn macht, hängt natürlich von Marke, Sortiment und Zielgruppe ab, aber speziell im Handel sehe ich spannende Möglichkeiten. Hier ist die Kreativität der betreuenden Agenturen gefragt. Ein kleines Beispiel, wie das aussehen könnte, sei noch schnell erwähnt: Starbucks augmentierte in den USA seinen traditionelle Weihnachtsbecher und andere Gegenstände im Café. Wurden sie mit der Starbucks App gescannt, erwachen die darin verborgenen Weihnachtsfiguren zum Leben [2]. Das bei all diesen Dingen, eine Social-Media-Anbindung selbstverständlich dazu gehört, brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen.

Print

Auch in der Verlagsbranche setzt man große Hoffnungen in AR. In den letzten Monaten erschienen diverse Zeitschriften und Magazine in einer um AR angereicherten Version. Vorreiter im deutschen Markt war hier das Magazin der Süddeutschen Zeitung. In der „Sagen Sie jetzt nichts“ Reihe konnte man die Gedanken des abgelichteten Prominenten lesen, wie beispielsweise in Abbildung 2 von Lena Meyer-Landrut, oder sich die Auflösung des Kreuzworträtsels am Originalplatz anzeigen lassen. Kürzlich reihte sich auch der „Stern“ in diese Reihe ein, hier wurden erstmals auch Werbepartner mit einbezogen, Anzeigen konnten um Bilder oder Videos erweitert werden (Abb. 3). Der Bauer Verlag ist bereits in den AR-„Regelbetrieb“ übergegangen: Die Magazine TV Movie und Welt der Wunder enthalten in jeder Ausgabe AR-Content. Bei TV Movie kann man sich Trailer der besprochenen Filme ansehen (inkl. Pre-Roll-Ads), Welt der Wunder erweitert kontextabhängig mit Filmen, 3D Modellen oder 360-Grad-Panoramen, außerdem gibt es ein Quiz [4].

Pre- und After-Sales-Service

Jegliche Art von gedrucktem Werbematerial eignet sich natürlich ebenfalls zur Augmentation per Mustererkennung. Im Unterschied zur bewährten Methode des QR-Markers, wo lediglich auf eine Website verwiesen werden kann, kann das Kamerabild hier weiterhin sichtbar sein. Außerdem ist es möglich, 3D-Modelle des Produkts über dem Prospekt schwebend erscheinen zu lassen. Es ist allerdings zu beachten, dass die Anzahl der auf dem Smartphone darstellbaren Polygone noch recht beschränkt ist. Man muss daher genau überlegen, ob die mögliche Qualität des 3D-Modells dem eigenen Markenanspruch genügt.
Was im After-Sales Bereich möglich ist, zeigt der Autofabrikant Audi recht schön mit seinem AR-Bordbuch, der eKurzinfo für den A1. Anstatt im Bordbuch zu blättern hält man die Kamera des iPhones auf die Bedienelemente, zu denen man Hilfe benötigt und eine audiovisuelle Erklärung wird eingeblendet [5].

Architektur Visualisierung

Ein weiterer wichtiger Bereich wird die Visualisierung im Architekturbereich sein. Vorstellbar ist, dass sich AR mittelfristig zur Lieblingsanwendung aller Architekten entwickelt. Endlich, wird es möglich sein, geplante Bauwerke auch an den Originalbauplätzen zu visualisieren und zwar so, dass sich auch der Auftraggeber oder die interessierte Öffentlichkeit mit einfachen Mitteln (dem eigenen Smartphone) ein Bild machen kann. Einen ersten Eindruck, was hier möglich sein wird, vermittelt die App des Niederländischen Architektur-Instituts NAI (Abb. 4),[6].

Was für noch nicht errichtete Bauwerke gilt, ist natürlich auch für nicht mehr existente Gebäude(teile) möglich. AR-basierte Apps werden neue Visualisierungsmöglichkeiten urbaner Geschichte ermöglichen und damit im Bildungsbereich ihren festen Platz finden. Ein erstes Beispiel liefert die App "Streetmuseum" [7] des Museum of London, die, noch ohne 3D, Fotos historischer Gebäude im Zeitverlauf an der jeweiligen Location zeigt. Einen Schritt weiter geht die App "Ludwig II." der Bayerischen Staatsbibliothek. Hier wird zum ersten Mal 3D Mustererkennung an realen Gebäuden eingesetzt. Hält man das Smartphone auf die Fassade der Münchner Residenz, wird über das reale Kamerabild der nicht mehr existierende Wintergarten Ludwigs II. als 3D Rekonstruktion ins Kamerabild eingeblendet, wie in Abbildung 5 zu sehen ist [8].

Spiele

Das iPhone hat sich ja mittlerweile zur marktführenden mobilen Spielekonsole entwickelt. Im Android-Lager ist durch die Vielzahl der verschiedenen Hardwareplattformen die Situation für Spieleentwickler etwas schwieriger, aber auch im Android Market gehören Spiele zu den Top-Seilern. Eines der innovativsten Dinge, die man hier sicherlich momentan machen kann, ist ein eigenes Augmented-Reality-Spiel. Eine clevere Umsetzung zeigt Red Bull: Bei seinem AR-Rennspiel für das iPhone [9] kann der Spieler mit Getränkedosen einen eigenen Kurs abstecken, der, nachdem er per Smartphone und Mustererkennung eingelesen wurde, mit einem Tourenwagen befahren werden kann - Social-Media-Anbindung natürlich wieder inklusive. Was aus einer Kombination aus realem und virtuellem Produkt werden kann, lässt sich gut am Beispiel des aktuellen Lieblingsspielzeugs der Szene beobachten: Die Parrot AR.Drone ist ein realer Quadkopter, den man mit dem Smartphone steuern kann. Das Kamerabild der Drone wird dabei aufs Display übertragen, hier setzt dann AR ein. Mit einem kostenlosen SDK können jetzt hierfür Spiele entwickelt werden, die das Kamerabild der realen Drone um virtuelle Hindernisse (oder Monster) erweitern (Abb. 6), [10].

Campaigning

Zum Schluss noch ein Randthema, das aber durch seinen partizipatorischen Charakter große Aufmerksamkeit erhalten könnte: Augmented Reality zusammen mit User Generated Content bilden ein explosives Duo. Bündnis90/Die Grünen haben im Wahlkampf zur Berlin-Wahl im Rahmen ihrer „Da müssen wir ran"-Kampagne eine AR-App entwickeln lassen, mit der die Bürger Missstände an Orten in ihrer Umgebung melden konnten. Alle Beiträge (insgesamt über 800) waren geokodiert für andere Nutzer sieht- und bewertbar, wie in Abbildung 7 zu sehen [11]. Die Karte mit Bürgeranliegen, die dadurch entstanden ist, war beeindruckend groß. Nun zählte der Berliner Wahlkampf der Grünen auch parteiintern nicht gerade zu den gelungensten, und eine Beteiligung der User rein aus Kampagnengründen ohne entsprechendes nachhaltiges Konzept, was mit den Beiträgen später geschehen soll, ist höchst problematisch. Aber die Idee ist spannend und wird uns in anderer Umsetzung sicher noch öfters begegnen.
Zum Beispiel im Rahmen der von einigen Medienkünstlern ins Leben gerufenen AR-Occupy-Wall-Street-Bewegung. Mithilfe von AR-Browsern lassen sich reale Orte „übernehmen" und mit symbolischem virtuellem Content anreichern, wie Abbildung 8 zeigt [12|.

Fazit

Augmented Reality ist über das Stadium des modischen Trends bereits hinaus. Eine große Anzahl von Anwendungen ist bereits auf dem Markt, die Möglichkeiten sind vielfältig und nicht auf eine Branche oder ein Produktsegment beschränkt. Die spannendsten Anwendungen werden sicherlich nicht aus den klassischen Medien kommen, sondern völlig neue Nutzungsszenarien darstellen, die ohne Augmented Reality bisher nicht möglich waren.

[1] http://www.youtube.Com/watch?v=xvzRXy3JOZO&NR=l&gl=DE
[2] http://www.youtube.com/watch?v=RWwQXi9RGOw
[3] http://www.youtube.com/watch?v=YKN7G9X9plU
[4] http://www.youtube.com/watch?v=KZSlQ3IOa9Q
(5] http://youtu.be/DMg4UUCaQdw
[6] http://en.nai.nl/exhibitions/3d_architecture_app
[7] www.museurnindocklands.org.uk/Resources/app/you-are-here-app/ index.html
[8] http://www.youtube.com/waten?v=BZr_gGW5QOc
[9] www.redbullusa.com/cs/Satellite/enJJS/OQ1242961393131tf/page/home
[10] http://ardrone.parrot.com/parrot-ar-drone/de/ar.games/#AR.FlyingAce
[111 http://youtu.be/gdlqtLVdTpw
[12] https://aroccupywallstreet.wordpress.com/

 
Ein Gastbeitrag von Markus Bokowsky für die deutsche Fachzeitschrift "Mobile Technology", Ausgabe 2/2012.

 
 


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